Inhalt
Kapitel 1: Sprachentwicklung im Überblick
Kapitel 2: Voraussetzungen und Bedingungen eines erfolgreichen Spracherwerbs
Kapitel 4: Sprachentwicklung und Gehirn
Kapitel 5: Mehrsprachige Entwicklung
Kapitel 6: Sprachentwicklung im Kontext anderer Entwicklungsbereiche
Kapitel 7: Grundlagen zu Auffälligkeiten und Diagnostik im Kontext der Sprachentwicklung
Kapitel 8: Sprachstandserfassung im Alter von 3 bis 6 Jahren
Kapitel 9: Frühe sprachliche Auffälligkeiten und Frühdiagnostik
Kapitel 10: Sprachentwicklungsdiagnostik bei mehrsprachigen Kindern
Kapitel 11: Definition und Klassifikation von Sprachstörungen
Kapitel 12: Folgeprobleme und begleitende Auffälligkeiten bei Sprachentwicklungsstörungen
Kapitel 13: Einbezug der Eltern in die Sprachförderung
Kapitel 14: Sprachförderung in Kindertagesstätten
Kapitel 15: Sprachtherapie mit Kindern
Kapitel 16: Mediale Einflüsse auf die Sprachentwicklung
Kapitel 17: Sprachförderung und Musik
Kapitel 18: Sprachentwicklung bei Kindern mit Behinderungen
Kapitel 19: Sprachentwicklung, Diagnostik und Förderung bei Kindern mit Hörschädigung
Kapitel 1: Sprachentwicklung im Überblick
- Die menschliche Sprache lässt sich in unterschiedliche Sprachebenen bzw. Sprachkomponenten untergliedern, die komplex zusammenwirken, gleichzeitig aber jeweils spezifische Anforderungen an das lernende Kind stellen:
* Als Phonologie bezeichnet man die Lautlehre, Morphologie ist die Wortbau- und Wortformenlehre, und Syntax ist die Satzformenlehre.
* Semantik stellt die Lehre von den sprachlichen Bedeutungen dar, wobei man zwischen Satzsemantik und Wortsemantik (Wortschatz, Lexikon) unterscheidet.
* Pragmatik ist die Lehre vom sprachlichen Handeln und Prosodie meint die Lehre von der melodischen Gliederung der Rede.
* Wahrnehmen und Verstehen von Sprache geht zu jeder Zeit der Sprachproduktion voraus.
- Im einsprachigen Erstspracherwerb lassen sich sog. „Meilensteine“ der Sprachentwicklung beschreiben, wobei zu beachten ist, dass diese mit hoher individueller Variabilität erreicht werden.
- Säuglinge sind schon vor der Geburt mit besonderen Fähigkeiten zur Sprachwahrnehmung ausgestattet, die es ermöglichen, dass ab dem 10. Monat basale kommunikative Fähigkeiten wie Turn-Taking und der trianguläre Blickkontakt als Voraussetzung für die weitere Sprachentwicklung ausgebildet werden.
- Bereits im 1. Lebensjahr nutzen Kinder spezifische Sprachverständnisstrategien zum Entschlüsseln von Äußerungen der Umwelt, die sowohl für die Wahrnehmung von Sprache als auch für die Sprachproduktion relevant sind.
- Vor Eintritt in die Schule sind die wesentlichen Meilensteine der Sprachentwicklung erreicht.
- Im weiteren Verlauf differenzieren sich die sprachlichen Fähigkeiten rezeptiv und expressiv weiter aus (besonders bezüglich der semantischen und pragmatischen Ebene), wobei das Tempo der Entwicklung im Vergleich zum Vorschulalter im Sinne einer systematischen Entwicklung und Stabilisierung von Wort- und Satzbildungsregeln reduziert ist. Weiterhin bestehen große individuelle Unterschiede.
Kapitel 2: Voraussetzungen und Bedingungen eines erfolgreichen Spracherwerbs
- Beim Spracherwerb wirken die inneren Voraussetzungen des Kindes und die äußeren Bedingungen der Sprachumwelt untrennbar zusammen.
- Das Kind ist mit angeborenen und früh erworbenen Wahrnehmungs- und Verarbeitungsfähigkeiten ausgestattet, die es ihm ermöglichen, das sprachliche Regelwissen über implizite Lernprozesse aus den gegebenen sprachlichen Informationen zu extrahieren.
- Die Sprachumwelt erfüllt gleichermaßen eine sozial-interaktive, eine sprachmotivierende sowie eine datenliefernde Funktion.
- Eine gute Passung liegt vor, wenn die Bezugspersonen ihre an das Kind gerichtete Sprache und ihr Interaktionsverhalten optimal am sprachlichen Entwicklungsstand und an den Verarbeitungsfähigkeiten des Kindes ausrichten.
- Unterschiede der Qualität und der Quantität der an das Kind gerichteten Sprache wirken sich auf die Geschwindigkeit und den Verlauf der Sprachentwicklung von Kindern mit intakten Lernvoraussetzungen aus.
Kapitel 4: Sprachentwicklung und Gehirn
- Studien zu den hirnfunktionellen und hirnanatomischen Grundlagen der frühen Sprachentwicklung sind bislang noch rar und erlauben im Vergleich zu den vorliegenden Verhaltens- und Beobachtungsdaten vorerst noch unvollkommene Einblicke in die Entwicklung der Sprache.
- Die vorliegenden Befunde bieten dennoch einen eindrucksvollen und vielversprechenden Ausgangspunkt für ein tieferes Verständnis der Entwicklungsund Reifungsprozesse des Gehirns, die der Sprachentwicklung zugrunde liegen.
- Funktionell-neurokognitiv direkt beobachtbare Verarbeitungsmuster erlauben bereits bei Säuglingen Rückschlüsse auf spezifische Verarbeitungsschritte sprachlicher Informationen. Anhand des Vergleichs zwischen Altersgruppen lassen sich Entwicklungsstufen der Informationsverarbeitung hin zu einem adulten Sprachverarbeitungssystem ableiten.
- Gleichzeitig weisen die verfügbaren anatomischen Ergebnisse auf wichtige hirnorganische Grundlagen hin, die eine gelingende Sprachentwicklung erst ermöglichen, und können bei Problemen der Sprachentwicklung wichtige diagnostische Anhaltspunkte liefern.
Kapitel 5: Mehrsprachige Entwicklung
- Bisher liegen nur wenige Studien zum Mehrsprachenerwerb vor, es dominieren Forschungen zum zweisprachigen Erwerb.
- Oft beziehen sich Erkenntnisse zum bilingualen Erwerb auf ausgewählte Probandengruppen und ausgewählte sprachliche Phänomene, sodass diese nur bedingt zu der sprachlichen Heterogenität bilingual aufwachsender Kinder passen.
- Das Zusammenspiel von Sprachenerfahrungen, Sprachdominanz, Inputbedingungen, sozioökonomischem Status, Sprachenstatus und individuellen Sprachfähigkeiten bildet ein komplexes Bedingungsgefüge für den individuellen Mehrsprachenerwerb und die wissenschaftliche Modellierung regelrechten bilingualen Erwerbs.
- Besonders Voraussagen und Rückschlüsse zur gegenseitigen Beeinflussung von Sprachen beim bilingualen Erwerb bedürfen einer sorgfältigen Abwägung und Prüfung der internen und externen
Erwerbsbedingungen.
Kapitel 6: Sprachentwicklung im Kontext anderer Entwicklungsbereiche
- Vorliegende Befunde zeigen vielfältige Beziehungen zwischen Fähigkeiten der Informationsverarbeitung, des Gedächtnisses, des Konzepterwerbs, der sozial-kognitiven und sozial-emotionalen Entwicklung sowie der Lernfähigkeiten einerseits und dem Erwerb teilweise unterschiedlicher Aspekte der Sprache andererseits (Wortform, Bedeutung [Mapping, Extension, Intension], Morphosyntax, kommunikative Sprachnutzung).
- Dabei lassen sich wichtige kognitive und sozial-kognitive Bedingungen des Spracherwerbs nachweisen; umgekehrt beeinflussen der Erwerb von Sprache sowie die sprachliche Kommunikation die kindliche Entwicklung auf vielen verschiedenen Wegen.
- Entwicklungszusammenhänge können sich dabei entwicklungstypisch ändern. Dies gilt z. B. für die Zusammenhänge zwischen (phonologischer) Arbeitsgedächtnisleistung und Wortschatzerwerb, aber auch für die Beziehungen zwischen sozial-kognitiver und sprachlicher Entwicklung.
- Differenziertes Wissen über diese Zusammenhänge ist sowohl theoretisch als auch praktisch bedeutsam für das Verständnis des typischen Entwicklungsverlaufs einschließlich der vielfältigen interindividuellen Unterschiede zwischen Kindern und von Störungen der Entwicklung sowie für die Diagnostik und die Förderung/Intervention. Beispielsweise weisen Kinder, die wegen psychosozialer Probleme auffallen, oftmals ein unentdecktes Sprachproblem auf (Cohen und Lipsett 1991). Das Verständnis von Entwicklungszusammenhängen und Wirkrichtungen erlaubt es, gezielt – z. B. Basisfähigkeiten für einen Bereich – zu fördern und kindliche Ressourcen zu nutzen.
- Die Bedeutung von Sprache für die Bildung und für Disparitäten bei Schulleistungen im Zusammenhang mit dem familiären Hintergrund von Kindern ist dabei kaum zu überschätzen.
Kapitel 7: Grundlagen zu Auffälligkeiten und Diagnostik im Kontext der Sprachentwicklung
- Ein substanzieller Anteil von Kindern zeigt in der Entwicklung deutliche Auffälligkeiten und Störungen der Sprachentwicklung. Diese können im Zusammenhang mit anderen Störungen, ohne andere erkennbare verursachende Bedingungen auftreten oder umgebungsbedingt sein.
- Im Rahmen einer interdisziplinären Diagnostik muss geklärt werden, welche Auffälligkeiten bei einem Kind vorliegen und welche Interventionsmaßnahmen angezeigt sind.
- Kinder mit sprachlichen Auffälligkeiten bedürfen spezifischer Maßnahmen zur Sprachförderung, die über allgemeine Anregungen im Rahmen der sprachlichen Bildung hinausgehen. Kinder mit Störungen der Sprachentwicklung benötigen zusätzlich eine Sprachtherapie von professionell ausgebildeten Fachkräften in der Frühförderung oder sprachtherapeutischen Praxis.
- Im Rahmen der Diagnostik kommen zur Einschätzung der sprachlichen Kompetenzen eines Kindes in der Regel als diagnostische Methoden die Befragung, die Beobachtung und Elizitationsverfahren zum Einsatz.
Kapitel 8: Sprachstandserfassung im Alter von 3 bis 6 Jahren
- Sprachscreenings werden zur Identifikation von Risikokindern (Kindern mit möglichem Sprachentwicklungsrückstand) eingesetzt. Ein auffälliges Ergebnis zieht eine umfassende Sprachdiagnostik inklusive sachgemäßer psychologischer Sprachtestung mit reliablen, validen und normierten Instrumenten nach sich.
- Allgemeine Sprachtests werden von spezifischen Sprachtests (zur Diagnostik sprachlicher Teilbereiche) unterschieden.
- Viele Sprachtests erfüllen nicht alle Anforderungen eines psychometrisch abgesicherten Diagnostikinstruments. Unter anderem gibt es keine Angaben zu Retestreliabilität, prognostischer Validität, Sensitivität, Spezifität; der RATZ-Index (relativer Anstieg der Trefferquote gegenüber der Zufallstrefferquote) ist unbekannt; Normen fehlen und sind vorläufig, veraltet sowie nicht repräsentativ; Normierung und Normierungsstichprobe(n) werden nicht hinreichend beschrieben; Stichprobenumfänge in den jeweiligen Altersgruppen sind zu klein.
- Jedem entscheidungsverantwortlichen Testanwender ist die Orientierung an aktuellen nationalen Testbeurteilungssystemen, z. B. des Diagnostik- und Testkuratoriums (DTK) der Förderation
Deutscher Psychologischer Vereinigungen (Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen [BDP], Deutsche Gesellschaft für Psychologie e. V. [DGPs]), anzuraten. Die Testrezensionen werden u. a. im Report Psychologie, in der Psychologischen Rundschau sowie vom Leibniz-Zentrum für Psychologische Information und Dokumentation (ZPID), Datenbanksegment PSYNDEX Tests (unter: https://leibniz-psychology.org/) veröffentlicht.
- Für mehrsprachig aufwachsende Kinder existieren zur Überprüfung ihres Entwicklungsstands in der nicht deutschen Erstsprache kaum Untersuchungsinstrumente mit Vergleichsnormen. Auch ist für DaZ die Frage des Normbezugs nicht einheitlich geklärt.
- Die Erhebung und Auswertung von Spontansprachproben ist nicht nur eine Ergänzung zur Erfassung des Sprachstands, sondern in seltenen Fällen auch die Methode der Wahl.
- Untersuchungsinstrumente für sprachkommunikative Fähigkeiten haben eher informellen Charakter, vor allem für Kinder bis zum 4. Lebensjahr; solche zur Erfassung von individuellen Erzählfähigkeiten sind in Entwicklung.
- Die individuelle Sprachstandserfassung indiziert nach medizinisch-differenzialdiagnostischer Abklärung bei auffälligem Ergebnis entsprechende Förder- oder Therapiemaßnahmen.
Kapitel 9: Frühe sprachliche Auffälligkeiten und Frühdiagnostik
- Der Beginn der Sprachentwicklung in den ersten 3 Lebensjahren ist durch eine besonders hohe Variabilität gekennzeichnet. Dies stellt eine große Herausforderung für die Frühdiagnostik dar. In den ersten 3 Lebensjahren spricht man deshalb noch nicht von einer Störung (SES), sondern von einer Verzögerung der Sprachentwicklung (SEV).
- Bis zum Alter von 24 Monaten stehen aktuell keine zuverlässigen Methoden zur Verfügung, um sprachliche Auffälligkeiten im Einzelfall mit einer ausreichenden diagnostischen Sicherheit beurteilen zu können.
- Ab dem Alter von 18–24 Monaten kann eine SEV anhand von Elternfragebögen zum aktiven Wortschatz sowie über Testverfahren zu produktiven und rezeptiven Fähigkeiten zuverlässig diagnostiziert werden. Kinder mit einer ansonsten weitgehend altersgemäßen Entwicklung werden im internationalen Raum zumeist als Late Talker bezeichnet.
- Late Talker haben ein erhöhtes Risiko für die Ausbildung einer späteren manifesten SES. Als Gruppe schneiden Late Talker in Bezug auf sprachliche und später auch schriftsprachliche Leistungen dauerhaft schlechter ab als Kinder mit einer von Beginn an altersgemäßen Sprachentwicklung.
- Eine verzögerte Sprachentwicklung kann zudem ein Hinweis auf eine vorliegende Primärstörung sein, z. B. eine Autismus-Spektrum-Störung, eine globaleEntwicklungsstörung und eine Hörstörung. Das heißt, eine vorliegende Verzögerung im Bereich des aktiven Wortschatzes erfordert immer eine differenzialdiagnostische Abklärung, zu der stets eine pädaudiologische Untersuchung gehört. Insbesondere sind Kinder, bei denen begleitend Defizite des Sprachverständnisses vorliegen, frühzeitig umfassend hinsichtlich ihrer nichtsprachlichen kognitiven Fähigkeiten und ihres Kommunikationsverhaltens zu untersuchen.
Kapitel 10: Sprachentwicklungsdiagnostik bei mehrsprachigen Kindern
- Die Sprachentwicklungsdiagnostik bei mehrsprachigen Kindern stellt immer eine Herausforderung dar.
- Eine Diagnostik muss individuell an das jeweilige Kind und seine Entwicklungsbedingungen angepasst sein.
- Eine sichere Identifizierung einer SES kann über den Einbezug verschiedener Informationsquellen, die Aussagen über den Erwerb der beteiligten Sprachen ermöglichen, gelingen (Paradis et al. 2013).
- Die Kombination von standardisierten Testverfahren und Elterninformationen hat sich in zahlreichen Studien als besonders relevant erwiesen (Grimm und Schulz 2014; Paradis et al. 2013).
- Für den Einbezug der Eltern in die Sprachdiagnostik gibt es aktuell zahlreiche Materialien in unterschiedlichen Sprachen, die einerseits die Elternberatung fokussieren (z. B. Asbrock et al. 2011; Buschmann et al. 2011), andererseits die Anamnese erleichtern (z. B. Asbrock et al. 2011; Ritterfeld und Lüke 2013). Die Materialien zur Elternberatung sind abrufbar unter: https://www.kinderaerztliche-praxis.de/a/downloads-merkblaetter-zurmehrsprachigkeit-fuer-eltern-in-verschiedenen-sprachen-1829224.
- Bei standardisierten Testverfahren sind ein bewusster Umgang mit Normwerten und eine angepasste Interpretation der kindlichen Leistungen besonders wichtig (Abschn. 10.4.2).
- Ist eine Entscheidung für oder gegen das Bestehen einer SES aufgrund von Testergebnissen und Elterninformationen nicht möglich, kann ein dynamischer Diagnostikprozess zusätzliche Informationen zum Lernpotenzial bieten (Kapantzoglou et al. 2012) und die Diagnose einer SES erleichtern.
Kapitel 11: Definition und Klassifikation von Sprachstörungen
- Die Entwicklung der Sprache ist ein zentraler Bestandteil der Entwicklung eines Kindes. Kommunikation, Interaktion und zwischenmenschliche Beziehungen sowie kognitive Entwicklung werden wesentlich über sprachliche Fertigkeiten gesteuert. Verzögerungen und Störungen der Sprachentwicklung sind ein Risiko für die Gesamtentwicklung und müssen deshalb genau erfasst und beobachtet werden.
- Die SES sind keine seltenen Störungen. Da persistierende SES die Gesamtentwicklung eines Kindes beeinträchtigen, sind eine frühe diagnostische Absicherung und eine störungsspezifische Behandlung besonders wichtig.
- Die Klassifikation von sprachlichen Auffälligkeiten ist komplex und durch unterschiedliche Nomenklaturen gekennzeichnet. Es handelt sich um eine nosologisch heterogene Gruppe.
- Störungen (SES) oder Verzögerungen der Sprachentwicklung (SEV) müssen von umgebungsbedingten Sprachauffälligkeiten abgegrenzt werden (unzureichende Förderung, Mehrsprachigkeit etc.). Unter günstigen Bedingungen können mehrere Sprachen gleichzeitig erworben werden.
- USES sind eine Untergruppe von SES.
- USES sind genetisch bedingte Störungsbilder, die im Einzelfall unterschiedliche Ausprägungen auf den einzelnen sprachlichen Ebenen haben können. Man unterscheidet rein expressiv ausgeprägte USES von zusätzlich vorliegenden Auffälligkeiten im rezeptiven Bereich. Störungen der Aussprache können Teil eines komplexeren Störungsbildes sein oder auch isoliert vorliegen.
Kapitel 12: Folgeprobleme und begleitende Auffälligkeiten bei Sprachentwicklungsstörungen
- Sprachentwicklungsstörungen (SES) sind lang anhaltende Auffälligkeiten. Obgleich im Jugend- und Erwachsenenalter in der Spontansprache kaum mehr offensichtliche sprachliche Symptome auffallen, zeigen Betroffene bei gezielten Überprüfungen bzw. bei komplexeren Sprachleistungen meist auch in diesem Alter noch sprachliche Schwierigkeiten.
- Kinder und Jugendliche mit SES zeigen als Gesamtgruppe gehäuft begleitende Auffälligkeiten in verschiedenen weiteren Entwicklungs- und Funktionsbereichen.
- Begleitende Auffälligkeiten betreffen die Verhaltens-, kognitive, soziale, emotionale und motorische Entwicklung, den Schriftspracherwerb, die allgemeinen Schulleistungen sowie die Schulabschlüsse und Berufschancen.
- Auftreten, Art und Schweregrad begleitender Auffälligkeiten sind sehr heterogen und Ergebnisse zu erhöhten Raten von Problemen in weiteren Entwicklungs- und Funktionsbereichen bei Kindern und Jugendlichen mit SES gelten entsprechend immer nur auf Gruppenebene.
- Als mögliche Prädiktoren für das Auftreten, die Art und den Verlauf begleitender Auffälligkeiten werden u. a. Persistenz, Schweregrad und Komplexität der SES sowie die nonverbale Intelligenz diskutiert.
- Die Ursachen für das gehäufte gemeinsame Auftreten von SES und Entwicklungsauffälligkeiten in anderen Bereichen sind noch nicht hinreichend geklärt, sodass verschiedene Hypothesen zu den genauen Entstehungszusammenhängen existieren. Die begleitenden Auffälligkeiten sollten jedoch nicht als einfache Folge der SES interpretiert werden, da auch eine umgekehrte Wirkrichtung sowie unterschiedliche gemeinsame Ursachen diskutiert werden.
- Mögliche begleitende Auffälligkeiten müssen bei der Diagnostik, der Wahl der Intervention(en) sowie der Beratung der Eltern und weiterer Bezugspersonen berücksichtigt werden.
Kapitel 13: Einbezug der Eltern in die Sprachförderung
- Das elterliche Interaktionsverhalten sowie die Quantität und Qualität des Sprachangebots nehmen entscheidenden Einfluss auf die sprachliche Entwicklung von Kindern.
- Ein responsives elterliches Interaktionsverhalten steht in einem positiven Zusammenhang zur sprachlichen Entwicklung, während sich ein direktiver kontrollierender Interaktionsstil negativ auswirkt.
- Eine gezielte Anleitung von Eltern zu sprachförderlichem Verhalten im Alltag sollte ein integraler Bestandteil einer jeden Frühfördermaßnahme und sprachtherapeutischen Intervention sein, sowohl bei Kleinkindern mit einer verzögerten Sprachentwicklung als auch bei Kindern mit einer SES. Hierfür sprechen folgende Argumente:
1. Im Gegensatz zur genetischen Ausstattung eines Kindes ist das sprachliche Umfeld gezielt veränderbar.
2. Eltern sprachauffälliger Kindertendieren – aus dem Wunsch heraus, ihrem Kind zu helfen bei gleichzeitig fehlendem Wissen über wirksame Möglichkeiten – zu einem eher direktiven Interaktionsverhalten sowie zum Rückgriff auf wenig sprachförderliche Methoden wie explizites Verbessern der kindlichen Äußerung, vermehrtes eigenes Sprechen und ein Reduzieren sprachlicher Anforderungen.
3. Qualitativ hochwertiger Input innerhalb von Sprachtherapiesitzungen allein kann aufgrund des geringen zeitlichen Umfangs nur einen begrenzten Beitrag zur gezielten sprachlichen Förderung des Kindes leisten.
4. Die Wirksamkeit systematischer elternzentrierter Interventionen konnte in mehreren randomisierten Kontrollgruppenstudien sowie in Metaanalysen nachgewiesen werden.
- Es liegen verschiedene, vollständig ausgearbeitete elternzentrierte Konzepte vor, die sich in ihren jeweiligen Zielgruppen, Zielsetzungen und Inhalten unterscheiden.
- Schulungskonzepte sollten neben der Wissensvermittlung folgende Elemente enthalten: die Demonstration und das Einüben von Techniken, ein Feedback zum videografierten Interaktionsverhalten der Eltern sowie Möglichkeiten zur Reflexion des eigenen Verhaltens und zum Austausch mit anderen Betroffenen. Die Eltern sollten über einen Zeitraum von 3 bis 6 Monaten begleitet werden.
- Auch für pädagogisches Fachpersonal in Kindertagesstätten besteht die Notwendigkeit einer Schulung des Interaktionsverhaltens mit sprachauffälligen Kindern. Deshalb wurden auch für diesen Bereich Fortbildungskonzepte entwickelt und evaluiert.
Kapitel 14: Sprachförderung in Kindertagesstätten
- Entlang der Dimension Orientierungsqualität wurden Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Bildungspläne der Länder zur Sprachbildung und -förderung skizziert.
- Spezifischere Anhaltspunkte zur konkreten Umsetzung der Sprachförderung in Kindertageseinrichtungen und damit zur Erhöhung der Prozessqualität enthalten Sprachförderkonzepte, wobei zwischen sprachstrukturellen (additiven) und ganzheitlichen (alltagsintegrierten) Sprachförderkonzepten unterschieden wird.
- Exemplarisch wurden Konzepte vorgestellt und Befunde zu deren Effektivität berichtet. Herausforderungen an die Sprachförderkompetenzen der Fachkräfte werden abgeleitet und Möglichkeiten
der Selbst- und Teamreflexion aufgezeigt.
- Es bleibt zu konstatieren, dass dem vergleichsweise breiten Wissen darüber, wie Kinder in ihrer sprachlichen Kompetenz gefördert werden können, ein noch großer Forschungs- und Entwicklungsbedarf bei der Umsetzung dieses Wissens durch die pädagogischen Fachkräfte in die Praxis gegenübersteht.
Kapitel 15: Sprachtherapie mit Kindern
- Die Normvarianten gesunder Sprachentwicklung können zunehmend besser von einer vorübergehenden Auffälligkeit und einer behandlungsbedürftigen Störung unterschieden werden.
- Entsprechend kann auch das Kontinuum sprachlicher Angebote für Kinder – von der natürlichen, familiären Anregung über die institutionelle Breiten- und zusätzliche Sprachförderung bis hin zur individuellen Therapie – methodisch aufgeschlüsselt werden, was die rechtzeitige Zuordnung betroffener Kinder zu einer geeigneten Interventionsform erleichtert.
- Sprachförderung und Sprachtherapie weisen charakteristische Unterschiede z. B. in Bezug auf das Setting, die Zielgruppe, das Personal und die Intensität der Maßnahme auf, beruhen aber auch auf methodischen und didaktischen Gemeinsamkeiten.
- Zusätzliche pädagogische Sprachförderung wird vorrangig im Bildungsbereich eingesetzt, während Sprachtherapie für Kinder mit diagnostizierten SES vorgesehen ist und in die Zuständigkeit des
Gesundheitssystems fällt.
- Sprachtherapie beruht auf den Grundprinzipien der Entwicklungsorientierung und der Aktivierung. Nach Auswahl der in der Zone der nächsten Entwicklung liegenden Therapieinhalte und -ziele erfolgt eine Anregung der Verarbeitungsmechanismen des Kindes u. a. durch die Erhöhung der Menge, Qualität und Intensität des sprachlichen Inputs in der Therapie.
- In diesem Kapitel wurden die Grundlagen, Vorgehensweisen und methodischen Gemeinsamkeiten unterschiedlicher therapeutischer Ansätze herausgearbeitet. Sie können in Abhängigkeit von der zugrunde liegenden Spracherwerbstheorie sprachspezifisch oder domänenübergreifend sein.
- SES zeigen sich bei mehrsprachigen Kindern in beiden Sprachen. Für eine angemessene therapeutische Intervention müssen Aspekte wie die Rolle der Erstsprache, Transfereffekte und besondere Anforderungen in Bezug auf die Umfeldarbeit bedacht werden.
- Die Rolle der Eltern in der Sprachtherapie wird unterschiedlich gesehen. Elterntraining, Elternarbeit und Elternpartizipation setzen die Formen der Einbeziehung von Eltern unterschiedlich um.
- Die Forderung evidenzbasierten Vorgehens in der Sprachtherapie wird zunehmend stärker beachtet und umgesetzt. Mithilfe von Reviews, Gruppen- und Einzelfallstudien wurden inzwischen für die wichtigsten sprachlichen Ebenen Effektivitätsnachweise erbracht.
- Sprachtherapeuten und Sprachtherapeutinnen, die heute mit sprachentwicklungsgestörten Kindern arbeiten, können auf einen theoretisch gut fundierten und zum Teil evaluierten Pool an Therapieansätzen und -methoden zugreifen und so ihre Arbeit theorie- und evidenzbasiert, störungsspezifisch, entwicklungsangemessen und kindgerecht gestalten.
Kapitel 16: Mediale Einflüsse auf die Sprachentwicklung
- Eine pauschale Aussage darüber, ob Medien generell gut oder schlecht für (Klein-)Kinder sind, lässt sich nicht treffen.
- Studienergebnisse legen den Schluss nahe, dass sich die Effekte aus einer Wechselwirkung zwischen den Eigenschaften des Kindes, Charakteristika des Mediums und der Medieninhalte sowie des Kontextes, in dem ein Medium genutzt wird, bilden.
- Zu medialen Potenzialen in Bezug auf die Möglichkeit der Entfaltung einer sprachförderlichen Wirkung gehören Interaktivität und Responsivität, Sprachlastigkeit, konzeptionelle Schriftlichkeit, auditive Aufmerksamkeit und die Möglichkeit zur wiederholten Rezeption.
- Insbesondere Print- und Audiomedien, aber auch neue Medien können Potenziale entfalten, die den Spracherwerb positiv beeinflussen und sogar gezielt zur Sprachförderung genutzt werden können.
- Nutzungsdaten zeigen, dass Hörspiele bei den 3- bis 6-Jährigen ein häufig genutztes Medium sind, das sie selbstständig und ohne Hilfe der Eltern bedienen können. Mit zunehmender Häufigkeit der Wiederholung sprachlichen Inputs steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich Kinder neues Sprachwissen aneignen.
- Bildlastige Medien werden von Kindern bevorzugt, wenn sie (noch) nicht über genügend Sprachkompetenz verfügen, um sprachlastige Medien zu verstehen. Um Fernsehformate adäquat nutzen zu können, muss ein Kind duale Repräsentationen verstehen. Kindern können besser die medial vermittelten relevanten Inhalte lernen, wenn sie in der Lage sind, sich auf zentrale, möglicherweise visuell oder auditiv weniger saliente Inhalte zu konzentrieren. Diese Fähigkeit verbessert sich mit dem Alter der Kinder. Um Fernsehinhalte konzentriert wahrnehmen, verarbeiten und abrufen zu können, brauchen Kinder zudem eine gewisse Menge an Erfahrungen mit dem Medium.
- Medien ermöglichen mehrsprachigen Familien, Informations- und Unterhaltungsformate in der Herkunftssprache zu rezipieren. Außerdem liefern Medien auch einen deutschsprachigen Input. Gerade bei mehrsprachigen Kindern kommt damit dem Medienangebot eine bedeutsame Rolle zu, die gezielt genutzt werden sollte, wenn zu Hause ausschließlich in der Herkunftssprache gesprochen wird. Vor allem mobile Medien wie das Smartphone oder das Tablet können eine Brücke zwischen dem deutschen Input in Kindergarten und Schule und einem herkunftssprachlichen Input in der Familie bilden. Das Hörspiel bietet ideale Voraussetzungen zur Aneignung sprachlicher Strukturen.
Kapitel 17: Sprachförderung und Musik
- Die engen Zusammenhänge von Sprache und Musik – sowohl strukturell als auch in der Entwicklung und Verarbeitung – legen einen Einsatz von Musik in der Sprachförderung und Sprachtherapie nahe.
- Es gibt vielfältige Ansatzpunkte und Förderbereiche, die in Abhängigkeit davon, ob die Sprache, das Sprechen oder die Kommunikation gefördert werden sollen, unterschiedlich gewichtet zum Einsatz kommen können.
- Beim Einsatz einer musikalischen Förderung bei Kindern mit Entwicklungsstörungen sollte man immer berücksichtigen, dass Erkenntnisse aus der Transferforschung nicht überinterpretiert werden dürfen, da in diesen Studien häufig gesunde erwachsene Probanden im Experten-Laien-Vergleich herangezogen wurden.
- Eine Übertragung auf Entwicklungsprozesse und eine gestörte Sprachentwicklung oder gestörte Sprachverarbeitung ist zudem schwierig, da bei den betroffenen Personen auch die musikalische Entwicklung und Verarbeitung gestört sind oder gestört sein können. Trotzdem bietet die Musik vielfältige Möglichkeiten für die Ergänzung einer Sprachförderung oder Sprachtherapie.
- Nicht zuletzt spricht für den Einsatz von Musik in Förderung oder Therapie, dass musikalische Aktivitäten sehr motivierend für die Kinder sind und einen hohen Aufforderungscharakter haben. Das gemeinsames Singen, Tanzen und Musizieren stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl in Kindergruppen, und entwicklungsorientierte Übungen und Spiele (z. B. Bewegungserziehung, Motorik, Aufmerksamkeit) bereiten durch die Verknüpfung mit Musik mehr Freude, sodass die Kinder gerne bereit sind, diese oft zu wiederholen. Musik ist in diesem Sinne keine Medizin, kann aber ein wichtiges Medium bei der Entwicklungsbegleitung und Entwicklungsförderung sein.
Kapitel 18: Sprachentwicklung bei Kindern mit Behinderung
- Bei der Sprachförderung und der Sprachtherapie von Kindern mit motorischen oder intellektuellen Behinderungen müssen die spezifischen Besonderheiten ihrer Sprachentwicklung berücksichtigt werden.
- Insbesondere die Herstellung geteilter Aufmerksamkeit und die Speicherung sprachlicher Informationen sind bei Kindern mit intellektueller Behinderung durch Einschränkungen exekutiver Funktionen erschwert.
- Die Förderung der Kommunikationsfähigkeit und sozialen Teilhabe hat Vorrang vor dem Einüben formalsprachlicher Kompetenzen.
- Die Beratung der Eltern in Bezug auf die Gestaltung sprachförderlicher Interaktionsformen im Alltag ist ein obligatorischer Teil der Sprachförderung und der Sprachtherapie.
- Die Einbeziehung alternativer Kommunikationsformen ist zur Sprachanbahnung sinnvoll.
Kapitel 19: Sprachentwicklung, Diagnostik und Förderung bei Kindern mit Hörschädigung
- Ein früher Zugang zu Sprache und kommunikativem Austausch ist von großer Bedeutung für die kognitive, soziale und emotionale Entwicklung von Kindern und hat einen hohen Stellenwert für deren schulischen und beruflichen Erfolg.
- Hörgeschädigte Kinder stehen in ihrer Entwicklung vor besonderen Herausforderungen, da die eingeschränkte Wahrnehmung und Verarbeitung von Sprache eine Reihe von Entwicklungsprozessen
beeinflussen kann, die wichtig für eine effektive interaktive Welterschließung sind.
- Kinder mit einer Hörschädigung zeigen eine große Variabilität ihrer lautsprachlichen Entwicklung, die von zahlreichen Input- und Intake-Faktoren abhängt. Zentrale Einflussfaktoren sind hierbei das sprachliche Angebot durch die Eltern sowie die auditiven Möglichkeiten der Kinder. In ihrem Zusammenspiel kann es zu Schwierigkeiten auf allen Ebenen der Lautsprache kommen, die je nach Gewichtung der verschiedenen Faktoren unterschiedlich stark ausgeprägt sein können.
- Der Erwerb von Gebärdensprachen, die vollwertige und natürliche Sprachen sind, folgt im Wesentlichen den gleichen Entwicklungsschritten wie der Lautspracherwerb, nur in räumlich-visueller
Modalität. Der Aufbau einer räumlichen Grammatik ist ein zentraler Aspekt des Gebärdenspracherwerbs.
- Obwohl Kinder mit einer Hörschädigung Gebärdensprachen im Prinzip barrierefrei erwerben können, steht den wenigsten von Anfang an ein gebärdensprachliches Angebot zur Verfügung, da die große Mehrheit der Kinder gut hörende Eltern hat, die über keine gebärdensprachlichen Kompetenzen verfügen.
- Es gibt sowohl für den Lautspracherwerb wie auch für den Gebärdenspracherwerb hörgeschädigter Kinder kaum normierte Testverfahren. Deshalb ist in der Diagnostik sprachlicher Fähigkeiten dieser Kinder ein umfassendes und kenntnisreiches Vorgehen notwendig, das verschiedene, u. a. informelle Verfahren einbezieht.
- Die Frühförderung bezieht heute zunehmend neben der Lautsprache zumindest lautsprachbegleitende Gebärden ein oder bietet ein bimodalbilinguales Konzept mit Laut- und Gebärdensprache an.
- Zentrale Elemente einer modernen Frühförderung hörgeschädigter Kinder sind eine abgesicherte Diagnostik, eine sorgfältige multiprofessionelle Begleitung der betroffenen Familien und eine ergebnisoffene methodische Beratung.