David G. Myers
Inhalt
- 3.1 Biologie, Verhalten und Verstand
- 3.2 Neuronale Kommunikation
- 3.2.1 Neurone
- 3.2.2 Wie Nervenzellen kommunizieren
- 3.2.3 Wie uns Neurotransmitter beeinflussen
- 3.3 Nervensystem
- 3.3.1 Peripheres Nervensystem
- 3.3.2 Zentrales Nervensystem
- 3.4 Endokrines System
- 3.5 Gehirn
- 3.5.1 Forschungswerkzeuge
- 3.5.2 Ältere Hirnstrukturen
- 3.5.3 Zerebraler Kortex
- 3.5.4 Zur Zweiteilung des Gehirns
- 3.5.5 Unterschiede zwischen der linken und der rechten Hemisphäre im intakten Gehirn
- 3.6 Kapitelrückblick
- 3.6.1 Verständnisfragen
- 3.6.2 Schlüsselbegriffe
- 3.6.3 Weiterführende deutsche Literatur
Zusammenfassung
Neuronale Kommunikation
Aus Gründen der Vereinfachung lassen sich biologische und psychologische Einflüsse auf das Verhalten voneinander trennen, aber in Wirklichkeit ist alles, was psychologisch ist, gleichzeitig auch biologisch. Franz Gall unterzog seine Überzeugungen in Bezug auf die Phrenologie keiner wissenschaftlichen Überprüfung. Diese frühe Theorie trug jedoch dazu bei, dass die Wissenschaftler begannen, über die Zusammenhänge zwischen unserer Biologie, unserem Verhalten und unseren seelischen Prozessen nachzudenken.
Wenn wir jeden Menschen als ein biopsychosoziales System ansehen, so ermöglicht uns dies, das Verhalten auf mehreren Analyseebenen zu untersuchen. Auf der biologischen Ebene setzen sich die Organe aus Nervenzellen und anderen Zellen zusammen und bilden umfassendere Systeme (Verdauung, Kreislauf, Informationsverarbeitung). Auf der soziokulturellen Ebene leben die Menschen zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten und unterliegen bestimmten Umwelteinflüssen und soziokulturellen Einflüssen. Auf der psychologischen Ebene gehen die Gedanken und Emotionen der Menschen mit ihrer Biologie und ihrer persönlichen Geschichte eine Wechselwirkung ein; und dadurch entwickelt sich ein einzigartiges Individuum. Viele neue Erkenntnisse gewinnen Wissenschaftler aus der Untersuchung neuronaler Prozesse bei anderen Säugetieren und bei relativ einfachen Lebewesen, weil sich die neuronalen Systeme bei Mensch und Tier ähneln.
Das Nervensystem besteht aus Milliarden einzelner Zellen, die Neuronen genannt werden. Neuronen senden über ihr Axon, das manchmal von einer Myelinschicht umgeben ist, Signale aus. Neuronen erhalten über ein verzweigtes Dendritensystem und den Zellkörper Signale von anderen Neuronen. Wenn diese Signale zusammen stark genug sind, feuert das Neuron und übermittelt entlang seines Axons einen elektrischen Impuls (das Aktionspotenzial). Dies geschieht mit Hilfe eines Prozesses, bei dem chemische Stoffe in Elektrizität umgewandelt und Ionen ausgetauscht werden. Die Reaktion des Neurons ist eine Alles-oder-nichts-Reaktion.
Wie Nervenzellen miteinander kommunizieren: Wenn die Aktionspotenziale das Ende des Axons erreichen (die axonale Endigung), führen sie zur Ausschüttung von Neurotransmittern. Diese chemischen Botenstoffe übermitteln eine Botschaft vom präsynaptischen Neuron über eine Synapse an die Rezeptorstellen eines postsynaptischen Neurons. Das präsynaptische Neuron absorbiert dann normalerweise bei einem Vorgang, der als Wiederaufnahme bezeichnet wird, den Überschuss an Neurotransmittermolekülen im synaptischen Spalt. Das postsynaptische Neuron erzeugt, wenn die Signale von diesem Neuron und von anderen stark genug sind, sein eigenes Aktionspotenzial und gibt die Botschaft an andere Zellen weiter.
Jeder einzelne Neurotransmitter bewegt sich auf festgelegten Bahnen im Gehirn und hat einen bestimmten Effekt auf Verhalten und Emotionen. Acetylcholin, einer der Neurotransmitter, über die wir am meisten wissen, hat einen Einfluss auf Muskelbewegungen, Lernen und Gedächtnis. Endorphine sind natürliche Opiate, die in Reaktion auf Schmerz und körperliche Betätigung freigesetzt werden.
Drogen und andere chemische Stoffe haben einen Einfluss auf die Kommunikation an der Synapse. Agonisten wirken erregend, indem sie die Rolle von bestimmten Neurotransmittern übernehmen oder ihre Wiederaufnahme verhindern. Antagonisten wie Curare hemmen die Freisetzung eines bestimmten Neurotransmitters oder blockieren seine Auswirkungen.
Nervensystem
Eine Hauptkomponente des Nervensystems ist das Zentralnervensystem (ZNS), das aus dem Gehirn und dem Rückenmark besteht. Der andere Bestandteil ist das periphere Nervensystem (PNS), das aus den Neuronen besteht, die das ZNS über Nerven (gebündelte Axone der sensorischen Neurone und der Motoneurone) mit dem übrigen Körper verbindet. Sensorische Neuronen übertragen die über die Sinnesrezeptoren eingehenden Informationen zum ZNS, und die Motoneuronen übertragen die Informationen vom ZNS an die Muskeln und Drüsen. Interneuronen kommunizieren innerhalb des ZNS sowie zwischen sensorischen und Motoneuronen.
Das periphere Nervensystem ist zweigeteilt. Das somatische Nervensystem ermöglicht die willkürliche Steuerung der Skelettmuskulatur. Das autonome (vegetative) Nervensystem kontrolliert durch seine Aufteilung in Sympathikus und Parasympathikus die Muskeln unserer Organe und die Drüsen.
Reflexbahnen sind automatische angeborene Reaktionen auf Reize, und sie beruhen nicht auf bewussten Entscheidungen, die im Gehirn getroffen werden. Ein einzelnes sensorisches Neuron, das durch irgendeinen Reiz erregt wird (wie etwa eine Flamme), schickt eine Botschaft an ein Interneuron im Rückenmark. Das Interneuron aktiviert ein Motoneuron, das irgendeine Muskelreaktion auslöst (wie etwa von der Hitzequelle zurückzuzucken). Im Gegensatz dazu sind die neuronalen Netze, die man in Gehirn findet, Gruppen vieler Neuronen, die eine Spezialaufgabe gemeinsam haben. Diese komplexen Netze werden durch ihren Einsatz verstärkt: Lernen durch Erfahrung. Jedes neuronale Netz ist mit anderen Netzen verbunden, die andere Aufgaben ausführen.
Das endokrine System
Das endokrine System besteht aus einer Gruppe von Drüsen, die Hormone in die Blutbahn ausschütten. Diese chemischen Botenstoffe wandern durch den Körper und beeinflussen andere Gewebe einschließlich des Gehirns. Einige Hormone sind chemisch identisch mit Neurotransmittern. Die Königsdrüse des endokrinen Systems ist die Hypophyse; sie beeinflusst die Ausschüttung von Hormonen in anderen Drüsen. Durch ein ausgeklügeltes Rückkopplungssystem beeinflusst der Thalamus im Gehirn die Hypophyse, die wiederum einen Einfluss auf andere Drüsen hat, die Hormone ausschütten, die wiederum das Gehirn beeinflussen.
Das Gehirn
Bei klinischen Beobachtungen waren Forscher schon seit langem auf die Folgen von Schädigungen verschiedener Bereiche des Gehirns gestoßen. Aber mit Hilfe von Bildern, die mit dem MRT erstellt werden, kann man heute die genauen Hirnstrukturen erkennen und die Gehirnaktivität mit EEG, PET und fMRT (funktionellem MRT) beobachten. Indem Neurowissenschaftler bestimmte Teile des Gehirns chirurgisch läsionieren und mit Hilfe von Elektroden stimulieren, die elektrische Aktivität auf der Oberfläche des Gehirns messen und die neuronale Aktivität mit Hilfe von Computern darstellen, versuchen sie, die Zusammenhänge zwischen Gehirn, Denken und Verhalten des Menschen zu erforschen.
Der Hirnstamm ist der älteste Teil des Gehirns und ist für automatische Überlebensfunktionen zuständig. Er besteht aus der Medulla, die Herzschlag und Atmung steuert, der Brücke, die zur Koordinierung der Bewegungen beiträgt, sowie der Formatio reticularis, die die Erregung des Nervensystems und damit das Bewusstsein beeinflusst. Über dem Hirnstamm liegt der Thalamus, die zentrale Schaltstelle des Gehirns. Das Kleinhirn, hinten am Hirnstamm lokalisiert, koordiniert die Muskelbewegungen und trägt dazu bei, die sensorischen Informationen zu verarbeiten.
Zwischen dem Hirnstamm und dem zerebralen Kortex liegt das limbische System, das mit dem Gedächtnis, den Gefühlen und Trieben des Menschen in Zusammenhang gebracht wird. Ein Teil des limbischen Systems ist die Amygdala (Mandelkern), die an aggressiven oder ängstlichen Impulsen beteiligt ist. Ein anderer Teil ist der Hypothalamus, der verschiedene lebenserhaltende Funktionen des Körpers steuert, z. B. das Belohnungs- und das Hormonsystem. Der Hippocampus, der auch Teil des limbischen Systems ist, verarbeitet Gedächtnisinhalte.
Der zerebrale Kortex ist die dünne Oberflächenschicht miteinander verbundener Neuronen, von der die Hemisphären des Gehirns bedeckt sind. Der Kortex des menschlichen Gehirns ist größer als der anderer Lebewesen; er ermöglicht Lernen, Denken und andere komplexe Formen der Informationsverarbeitung, zu denen nur wir Menschen fähig sind.
Jede Hemisphäre des zerebralen Kortex wurde zur besseren Orientierung in vier Teile aufgeteilt. Jeder Hirnlappen erfüllt viele Funktionen und tritt mit anderen Arealen des Kortex in Interaktion.
- Der Frontallappen (direkt hinter der Stirn) ist am Sprechen, an den Muskelbewegungen, dem Planen und dem Urteilen beteiligt.
- Die Parietallappen (im oberen und hinteren Teil des Kopfes) erhalten sensorische Signale zu Berührungen und zur Körperposition.
- Zu den Okzipitallappen (am Hinterkopf) gehört die Sehrinde.
- Die Temporallappen (direkt über den Ohren) enthalten die Hörrinde.
Einige Areale des Gehirns haben spezielle Funktionen. Der motorische Kortex, eine Region, die wie ein Bogen geformt ist, befindet sich im hinteren Teil der Frontallappen und steuert die willkürlichen Bewegungen. Der sensorische Kortex, eine Region im vorderen Teil der Parietallappen, nimmt Körperempfindungen auf und verarbeitet sie. In diesen Regionen belegen Körperteile, die besonders präzise gesteuert werden müssen (im motorischen Kortex), und jene, die besonders sensibel sind (im sensorischen Kortex), am meisten Raum. Den größten Bereich des Kortex - den größten Teil jedes Einzelnen der vier Hirnlappen - nehmen die nicht spezialisierten Assoziationsfelder ein; sie führen die Informationen zusammen, die im Zusammenhang mit dem Lernen, dem Erinnern, dem Denken und anderen höheren Funktionen anfallen.
Die Sprache ist das Ergebnis der Integration vieler spezifischer neuronaler Netze, die spezialisierte Unteraufgaben erfüllen. Wenn Sie etwas vorlesen, nimmt der visuelle Kortex des Gehirns Wörter als visuelle Reize auf, der Gyrus angularis transformiert diese visuellen Repräsentationen in auditorische Codes, das Wernicke-Zentrum interpretiert diese Codes und schickt die Botschaft an das Broca-Zentrum, das den motorischen Kortex dabei steuert, wie er die gesprochenen Wörter hervorbringt.
Wenn eine Gehirnhälfte früh im Leben eines Menschen Schaden nimmt, kann die andere Hälfte die meisten ihrer Funktionen mit übernehmen. Diese Plastizität nimmt jedoch mit dem Alter ab, obwohl bei einem Schlaganfall oder einer anderen Hirnverletzung die umliegenden Neuronen eventuell einen Teil der Funktionen der geschädigten Zellen übernehmen.
Klinische Beobachtungen zeigten schon vor langer Zeit, dass die linke Hemisphäre für die Sprache unverzichtbar ist. In der Forschung mit Split Brain-Patienten, deren Corpus callosum durchtrennt wurde, zeigte sich, dass bei den meisten Menschen die linke Hemisphäre eher verbale Fähigkeiten hat, während die rechte bei der visuellen Wahrnehmung und dem Erkennen von Emotionen brilliert. Untersuchungen an Menschen mit intaktem Gehirn bestätigen, dass jede Gehirnhälfte auf ihre Art dazu beiträgt, dass das Gehirn in integrierter Weise seine Funktion erfüllen kann.
Etwa 10% der Menschen sind Linkshänder. Nahezu alle Rechtshänder verarbeiten die Sprache in der linken Hirnhälfte, wie dies bei etwas mehr als der Hälfte der Linkshänder der Fall ist. Die übrigen Linkshänder teilen sich nahezu zu gleichen Teilen in solche auf, die Sprache in der rechten Hirnhälfte verarbeiten, und in solche, die dies in beiden Hirnhälften tun. Der Prozentsatz der Linkshänder nimmt mit dem Alter stark ab, von etwa 15% im Alter vom 10 Jahren auf weniger als 1% im Alter von 80 Jahren. Diese Abnahme könnte Folge einer höheren Gefährdung durch Unfälle sein.