Siegfried Hoppe-Graff
Inhalt
- 18.1 Überblick über die Pädagogische Psychologie
- 18.1.1 Gegenstand und Aufgabe
- 18.1.2 Geschichte der deutschsprachigen Pädagogischen Psychologie
- 18.1.3 Pädagogische Psychologie in der Praxis: Das Arbeitsfeld der Schulpsychologie
- 18.2 Bedeutung der elterlichen Erziehung
- 18.2.1 Spielt die elterliche Erziehung eine Rolle?
- 18.2.2 Welcher Erziehungsstil ist am günstigsten?
- 18.3 Erziehungseinflüsse auf die Internalisierung von moralischen Regeln und Normen
- 18.3.1 Hoffmans Theorie zum Einfluss der elter lichen Erziehung auf die Internalisierung
- 18.3.2 Überprüfung, Kritik und Erweiterungen der Theorie Hoffmans
- 18.3.3 Pädagogische Schlussfolgerungen
- 18.4 Aggressionen und Gewalt unter Kindern und Jugendlichen
- 18.4.1 Gespielte und ernsthafte Aggressionen
- 18.4.2 Mobbing unter Kindern – eine besondere Form der Gewalt
- 18.4.3 Das Early-Starter-Modell
- 18.4.4 Längsschnittbeobachtungen zu elterlichen Einflüssen auf die Genese von Problemverhalten
- 18.5 Neue Aufgaben und Herausforderungen der Pädagogischen Psychologie
- 18.5.1 Auswirkungen der außerfamiliären Kleinkindbetreuung
- 18.5.2 Modelle zur Erklärung von Schulleistungsunterschieden
- 18.6 Kapitelrückblick
- 18.6.1 Verständnisfragen
- 18.6.2 Schlüsselbegriffe
- 18.6.3 Weiterführende deutsche Literatur
Zusammenfassung
Überblick über die Pädagogische Psychologie
In der Pädagogik ist es üblich, unter Erziehung die bewusste und beabsichtigte Einflussnahme auf das Handeln eines einzelnen Menschen oder einer Gruppe von Menschen (meistens von Heranwachsenden) zu verstehen, wobei diese Einflussnahme mit Blick auf ein bestimmtes Ziel hin erfolgt. Dagegen ist es für die Psychologie zweckmäßiger, den Handlungs- und Interaktionsaspekt in den Vordergrund zu stellen. Unter Erziehung versteht die Psychologie alle Erfahrungsmöglichkeiten, die innerhalb eines kulturellen Rahmens bereitgestellt werden, um die Lern- und Entwicklungsprozesse eines Menschen zu unterstützen. Im Fokus der Erziehungspsychologie steht die Erforschung von Erziehungsprozessen, die Bildungspsychologie (Instruktionspsychologie) dagegen betrachtet Bildungsprozesse. Erziehungsprozesse beziehen sich auf den Erwerb von Werthaltungen, Einstellungen usw. Es geht also um Sozialisation, d. h. das Hineinwachsen in eine soziale Gemeinschaft. Bildungsprozesse beziehen sich auf den Erwerb von Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Bildung erfolgt im Wesentlichen durch Lehren und Lernen.
Als eigenständige wissenschaftliche Disziplin ist die Pädagogische Psychologie gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden. Genauso wie die Psychologie insgesamt löste sie sich um diese Zeit von der Philosophie und Pädagogik ab. Damals gehörte die enge Verknüpfung von Wissenschaft und pädagogischer Praxis zu ihrem Programm. Im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entfernte sich die Pädagogische Psychologie jedoch immer weiter von diesem Vorsatz. Erst in den letzten Jahrzehnten hat die Pädagogische Psychologie wieder den Weg zurück zu ihren Anfängen gefunden - zu einer Forschung, die Wissenschaft und pädagogische Praxis verbindet. Entstanden ist die neue Instruktionspsychologie, die sich durch drei Merkmale auszeichnet:
- Sie ist eine Grundlagenwissenschaft, die sich mit den Prozessen des Anleitens und der Vermittlung befasst, und keine auf den Unterricht angewandte Allgemeine Psychologie;
- sie konzentriert sich auf die Erforschung von Vermittlungsprozessen in den einzelnen Unterrichtsfächern; und
- sie beschäftigt sich mit Prozessen und weniger mit Produkten des Lehrens und Lernens.
Psychologen mit dem Schwerpunkt in Pädagogischer Psychologie arbeiten in so unterschiedlichen Praxisbereichen wie Schule und Hochschule, in der Familien- und Erziehungsberatung, in der Organisationsund Berufsberatung, in der betrieblichen Aus- und Weiterbildung sowie im Bereich der Entwicklung und Anwendung von Unterrichtsmedien. Zu den Aufgaben der Schulpsychologie gehören unter anderem die Beratung von Schülern, Lehrern und Eltern auf der Grundlage von fundierter Diagnostik, die Fortbildung von Lehrern, die Schulentwicklung und - nicht zu vergessen - die Qualitätssicherung der eigenen Arbeit.
Bedeutung der elterlichen Erziehung
Die Rolle der Erziehung durch die Eltern für die Entwicklung des Kindes: Eine Vielzahl von Überlegungen und Ergebnissen spricht dafür, dass Eltern - entgegen der Gruppensozialisationstheorie von Harris - für die Entwicklung des Kindes generell am bedeutsamsten sind. Betrachtet man einzelne Entwicklungsbereiche, so findet man Gebiete, wo der Elterneinfluss eher gering ist und solche, wo er sehr stark ist. Außerdem muss betont werden, dass die Alternative entweder Biologie oder Erziehung falsch gestellt ist. Jeder Entwicklungsprozess ist immer das Ergebnis von beiden Einflussfaktoren, der Natur (biologische Bedingungen) und der Kultur (Erziehungspraktiken und Erziehungsstile).
Nach Baumrind wurden ursprünglich drei Erziehungsstile unterschieden: der autoritative, der autoritäre und der permissive. Heute ist es üblich, den permissiven Stil weiter aufzugliedern in den nachgiebigen und den vernachlässigenden Erziehungsstil. Diese Einteilung beruht auf der Kombination der beiden bipolaren Dimensionen (a) der Liebe/Zuwendung versus Feindseligkeit/Abwendung und (b) der Autonomie/Selbständigkeit versus Lenkung/Kontrolle. Neuere Studien haben allerdings gezeigt, dass das Merkmal der Kontrolle präzisiert werden sollte: Es geht um Verhaltenskontrolle und nicht um psychologische Kontrolle.
Die Auswirkungen verschiedener Erziehungsstile: In dem von westlichen Normen und Werten geprägten Kulturkreis erweist sich der autoritative Erziehungsstil i. Allg. den anderen 3 Stilen in einer Vielzahl von Merkmalen als überlegen. Kinder und Jugendliche, die so erzogen worden sind, haben wenige Verhaltensprobleme und ein positives Selbstkonzept, sind leistungsbereit und soziomoralisch gefestigt. Ausgesprochen ungünstig ist der vernachlässigende Erziehungsstil; Kinder und Jugendliche, die vernachlässigend erzogen worden sind, schneiden in nahezu allen untersuchten Merkmalen am schlechtesten ab. Autoritär erzogene Jugendliche haben vergleichsweise wenige nach außen gerichtete Verhaltensprobleme und gehören eher zu den guten Schülern. Aber sie leiden an geringem Selbstbewusstsein und neigen deshalb zu nach innen gerichtetem Problemverhalten. Nachgiebig erzogene Jugendliche neigen zu Disziplinproblemen und schneiden in der Schule eher schlecht ab. Sie sind jedoch sozial kompetent und haben ein gerechtfertigt hohes Maß an Vertrauen in die eigenen sozialen Fertigkeiten.
Die Bedeutung von Erziehungshaltungen und Erziehungsmaßnahmen sind immer in das jeweilige kulturelle Normen- und Wertesystem eingebettet. So haben beispielsweise Kontrolle und Gehorsam im traditionellen konfuzianischen Wertesystem Ostasiens sowohl für die Eltern als auch für die Kinder eine andere Bedeutung als im westlichen Kulturkreis. Deshalb kann man nicht erwarten, dass sich der autoritative Erziehungsstil in anderen kulturellen Kontexten ebenfalls als überlegen erweisen wird.
Autoritative Erziehung ist überlegen, weil hierbei ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Forderung nach der Einhaltung von Regeln und Normen auf der einen Seite und dem Freiraum für Autonomie und Entfaltung eigenen Denkens auf der anderen Seite vorliegt. Erziehungseinflüsse auf die Internalisierung von moralischen Regeln und Normen
Bei der induktiven Erziehung ist das elterliche Handeln darauf ausgerichtet, bei dem Kind Verständnis für das vorausgegangene Fehlverhalten zu wecken (zu induzieren). Hingegen reagieren machtausübende Eltern auf Fehlverhalten mit Härte und ohne Verständnis - sie drohen, befehlen und strafen unter Umständen mit körperlicher Gewalt. Liebesentzug bedeutet, dass die Eltern dem Kind eindeutig den Entzug ihrer Zuneigung signalisieren. Durch induktive Erziehung erleichtern Eltern ihren Kindern die Internalisierung von Regeln und Normen, weil nicht Machtausübung oder Liebesentzug im Vordergrund steht, sondern die Verdeutlichung der Folgen des kindlichen Fehlverhaltens für andere Personen.
Wie induktive Erziehung zur Internalisierung moralischer Normen beiträgt (im Sinne von Hoffmans Theorie): Die Erfahrungen in einer Überschreitungssituation beeinflussen das spätere Handeln deshalb so nachdrücklich, weil diese Situation der moralischen Bewährungssituation strukturell ähnlich ist: In beiden Situationen geht es um den Konflikt zwischen egoistischen Motiven und Normen, durch die die egoistischen Motive eingeschränkt werden sollen. In Überschreitungssituationen sind diese Normen zunächst noch nicht internalisiert, sondern sie werden durch das Eingreifen der Eltern realisiert. Aber das Kind macht hier die Erfahrung, dass es seine egoistischen Motive einschränken soll. Je nach elterlicher Erziehung werden ihm ganz unterschiedliche Beweggründe für die Einhaltung der Norm nahegebracht: der Blick auf die kognitiven und affektiven Folgen seines Tuns für das »Opfer« im Falle der induktiven Erziehung und im Gegensatz dazu der Blick auf die strafenden oder zurückweisenden Reaktionen der Eltern im Falle der Machtausübung oder des Liebesentzugs.
Zum einen führt empathisches Mitfühlen in Verbindung mit der Fähigkeit, eine ursächlichen Beziehung zwischen den eigenen Regelüberschreitungen und deren schädigender Wirkung auf andere Personen herzustellen, zur Erfahrung von empathischen Schuldgefühlen. Diese Schuldgefühle beeinflussen das Handeln in späteren Bewährungssituationen. Zum anderen vermittelt Empathie den Zusammenhang zwischen der elterlichen Erziehung und der Bereitschaft des Kindes, prosozial zu handeln.
Kuczynski hat Hoffmans unidirektionale Sichtweise von moralischer Sozialisation zu einem bidirektionalen Sozialisationsmodell erweitert, das die wechselseitige Einflussnahme von Eltern und Kindern im Erziehungsprozess berücksichtigt. Grusec u. Goodnow haben aufgezeigt, wovon es abhängt, ob die Kinder die elterlichen Erziehungsmaßnahmen wahrnehmen und ob sie sie akzeptieren.
Schon bei kleinen Kindern ist es nicht nur im Interesse des Opfers, sondern auch des Angreifers, wenn Eltern »Übergriffe« (z. B. das Wegnehmen eines Objektes) unterbinden. Die angemessene Form des Eingreifens sind induktive Erziehungsmaßnahmen.
Aggressionen und Gewalt unter Kindern und Jugendlichen
Warum man der populären These, die Kinder- und Jugendgewalt habe in den vergangenen Jahren drastisch zugenommen, mit Vorsicht begegnen sollte:
3 Gründe mahnen zur Vorsicht.
- Erstens sind Kriminalitätsraten nur ein indirekter Anhaltspunkt für Gewaltbereitschaft und Aggressivität.
- Zweitens gibt es Hinweise darauf, dass die Öffentlichkeit aufgrund der Gewaltdiskussion sensibler gegenüber Delikten junger Menschen geworden ist.
- Und drittens kann ein Trend über 2 oder 3 Jahre untypisch für langfristige Veränderungen sein.
Von gespielter Aggression spricht man, wenn eine Handlung mit aggressivem Inhalt - also eine Handlung, die die psychische oder physische Verletzung oder Schädigung einer anderen Person zum Thema hat -, vom Akteur mit dem Bewusstsein ausgeführt wird, dass es sich um Spiel handelt. Dieses »Spielbewusstsein« schließt ein, (a) dass der Akteur »nur so tut, als ob«, (b) dass er selbst sich dieses Als-ob-Charakters bewusst ist und (c) dass er dem anderen keine Schädigung zufügen will. Bei ernsthaften Aggressionen hingegen fehlt der Als-ob-Charakter; sie sind ausdrücklich mit der Absicht verbunden, jemanden zu schädigen oder ihm eine Verletzung zuzufügen.
Von Mobbing spricht man dann, wenn ein Kind wiederholt und systematisch den Aggressionen eines oder mehrer anderer Kinder ausgesetzt ist. In typischen Mobbing-Episoden wird das Opfer erniedrigt und als wertlos behandelt, so lange, bis es sich schließlich selbst als wertlos erlebt. Es steht den Attacken meistens hilflos gegenüber, auch deshalb, weil es in der Regel in der Gruppe sozial isoliert ist. Jene Kinder in der Gruppe, die weder Opfer noch Täter sind, also die Zuschauer, reagieren meistens mit Wegschauen, Schweigen und Passivität. Ein Grund dafür ist die Furcht vor Repressalien durch die Täter. Die Täter selbst haben Spaß am Mobbing; sie erleben die Hilflosigkeit des Opfers und die Passivität der Zuschauer als verstärkend.
Im Early-Starter-Modell wird angenommen, dass die Vorläufer antisozialen und delinquenten Verhaltens in frühen familiären Erfahrungen liegen, lange bevor negative Einflüsse und Vorbilder in Gruppen von gleichaltrigen Jugendlichen einen ungünstigen Einfluss ausüben können. Die Arbeitsgruppe um Patterson spricht von Nötigung oder Zwang (»coercion«) und von Zwang ausübenden Familien (»coercive families«). Ein Element der zwanghaften Erziehung sind physische und verbale Aggressionen gegen das Kind, die im Sinne des sozialen Lernens von den Kindern übernommen werden. Kurz gesagt: In Familien, die mit Zwang erziehen, werden aus kleinen Kindern, die Aggression erfahren, häufig aggressiv handelnde Heranwachsende. Im Vergleich zu den Early Starter sind die Prognosen für die Late Starter günstiger. Denn die Late Starter haben in der Kindheit mindestens ausreichende soziale Fähigkeiten und Fertigkeiten erworben, um mit anderen auszukommen, und sie fallen auch in den Schulleistungen nicht besonders ab.
Die Ergebnisse der Längsschnittstudie von Eron et al. zum Zusammenhang zwischen elterlicher Erziehung und der Entwicklung von Aggressivität: In dieser Studie, in der die Entwicklung vom Grundschul- bis ins Erwachsenenalter beobachtet wurde, zeigte sich, dass Aggressivität, die in der Kindheit durch ungünstige Erziehung erworben wurde, oftmals tatsächlich zu einer Last wird, an der man bis in das Erwachsenenalter trägt. Sie kann sogar für die Erziehung der eigenen Kinder ungünstige Bedingungen schaffen, so dass auf dem Wege über die elterliche Erziehung ein erhöhtes Maß an Aggressivität über mehrere Generationen weitergereicht werden kann.
Neue Aufgaben und neue Herausforderungen der Pädagogischen Psychologie
Die wichtigste Studie ist die U.S.-amerikanische Längsschnittuntersuchung des NICHD, in der über 1300 Kinder und deren Eltern wiederholt beobachtet wurden und für die mittlerweile Daten bis in die Schulzeit vorliegen. In dieser Studie zeigte sich, dass die Befürchtung, Betreuung außerhalb der Familie habe generell einen nachteiligen Einfluss auf die Beziehung des Kindes zu den Eltern und auf seine weitere Entwicklung, ungerechtfertigt ist. Allerdings kommt es auf die Qualität und, was die Auswirkungen auf die sozioemotionale Anpassung angeht, auf die Dauer der Krippenbetreuung an. Vergleicht man jedoch den Einfluss der Betreuungsqualität mit dem Einfluss der Qualität des familiären Umfeldes, so erweisen sich - grob gesagt - die familiären Bedingungen als bedeutsamer. Zu beachten ist, dass sich ungünstige familiäre Bedingungen und eine schlechte Qualität der Krippenbetreuung negativ zu verstärken scheinen. Was den Zusammenhang zwischen Dauer der Krippenbetreuung und dem Auftreten von Problemverhalten mit 4 1/2 Jahren angeht, so gibt es keine »Schwelle «, die diesen Effekt einschränken würde; vielmehr gilt uneingeschränkt: Je mehr Zeit die beobachteten Kinder in Fremdbetreuung verbrachten, desto schlechter war die sozioemotionale Anpassung.
Das Angebot-Nutzungs-Modell führt die Merkmale des Bildungssystems und des einzelnen Schülers zusammen, berücksichtigt dabei aber die Verschiedenheit dieser Merkmalsbereiche. Ein weiterer Grundgedanke des Modells ist die Unterscheidung von Schulleistungsbedingungen, die man als Angebotsmerkmale oder als Nutzungsmerkmale bezeichnen kann. Diese Trennung ist notwendig, weil Schulleistungen das Ergebnis eines Prozesses sind, in dem die eine Person (der Lehrer) einer anderen Person (dem Schüler) ein Angebot macht, auf das die andere Person unterschiedlich reagieren kann, aber nicht muss.