David G. Myers

Inhalt

  • 11.1 Was ist Intelligenz?
    • 11.1.1 Intelligenz als eine umfassende oder als verschiedene spezifische Fähigkeiten?
    • 11.1.2 Intelligenz und Kreativität
    • 11.1.3 Emotionale Intelligenz
    • 11.1.4 Ist Intelligenz neurologisch messbar?
  • 11.2 Intelligenzmessung
    • 11.2.1 Ursprünge der Intelligenzmessung
    • 11.2.2 Moderne Tests der geistigen Fähigkeit
    • 11.2.3 Prinzipien des Testaufbaus
  • 11.3 Die Dynamik der Intelligenz
    • 11.3.1 Stabilität oder Veränderung?
    • 11.3.2 Intelligenzextreme
  • 11.4 Genetische und umweltbedingte Einflüsse auf die Intelligenz
    • 11.4.1 Zwillings- und Adoptionsstudien
    • 11.4.2 Umweltbedingte Einflüsse
    • 11.4.3 Gruppenunterschiede bei Intelligenztests
    • 11.4.4 Probleme der Verzerrung in Intelligenztests
  • 11.5 Kapitelrückblick
    • 11.5.1 Verständnisfragen
    • 11.5.2 Schlüsselbegriffe
    • 11.5.3 Weiterführende deutsche Literatur

 

Zusammenfassung

 

Was ist Intelligenz?

Intelligenz ist ein gesellschaftlich konstruiertes Konzept, das von Kultur zu Kultur unterschiedlich ist. In der aktuellen Intelligenzforschung gibt es 2 große Kontroversen: (1) Handelt es sich um eine Gesamtfähigkeit oder um viele Fähigkeiten? (2) Können Neurowissenschaftler Intelligenz im Gehirn lokalisieren und messen? Intelligenz konkretisieren zu wollen, ist so, als wolle man sie als reales Objekt und nicht als abstraktes Konzept behandeln. Die meisten Psychologen halten sich heute an die folgende Intelligenzdefinition: die Fähigkeit, aus Erfahrung zu lernen, Probleme zu lösen und sich an neue Situationen anzupassen.

Argumente, bei denen Intelligenz als eine allgemeine geistige Fähigkeit angesehen wird, die allen spezifischen geistigen Fähigkeiten zugrunde liegt, beruhen teilweise auf der Faktorenanalyse. Dieses statistische Verfahren wurde eingesetzt, um zu zeigen, dass geistige Fähigkeiten gewöhnlich Cluster bilden und dass die Menschen in der Regel etwa dasselbe Kompetenzniveau für alle Fähigkeiten dieses Clusters haben. In der Mitte des 20. Jahrhundert bezeichnete Charles Spearman (der neben anderen die Faktorenanalyse entwickelt hat) dieses gemeinsame Intelligenzniveau als g-Faktor. Einige der heutigen Psychologen stimmen mit Spearmans Auffassung überein, dass wir ein gemeinsames Intelligenzniveau haben, aufgrund dessen man unsere Fähigkeiten in allen anderen schulrelevanten Bereichen vorhersagen kann.

Intelligenztheorien von Gardner und Sternberg:

  • Howard Gardner stellt die Auffassung von der allgemeinen Intelligenz in Frage. Er schlägt 8 unabhängige Intelligenzen vor: die sprachliche (klug in Bezug auf Wörter), die logisch-mathematische (klug in Bezug auf Zahlen), die musikalische (klug in Bezug auf Musik), die räumliche (klug in Bezug auf den Raum), die körperlich-kinästhetische (klug in Bezug auf den Körper), die intrapersonale (klug in Bezug auf die eigene Person), die interpersonale (klug in Bezug auf andere Menschen) und die auf die Natur bezogene Intelligenz (klug in Bezug auf die Natur).
  • In Robert Sternbergs triarchischer Intelligenztheorie wird vorgeschlagen, dass es nur 3 Intelligenzen gibt: die analytische (Problemlösen in der Schule), die kreative und die praktische Intelligenz.

 

Die 4 Komponenten der emotionalen Intelligenz sind:

  • die Fähigkeiten, Emotionen wahrzunehmen (sie im Gesichtsausdruck, in der Musik und in Geschichten zu erkennen),
  • Emotionen zu verstehen (sie vorherzusagen und anzugeben, wie sie sich verändern und ineinander übergehen),
  • mit Emotionen umzugehen (zu wissen, wie man sie in unterschiedlichen Situationen zum Ausdruck bringt) und
  • Emotionen zu nutzen.

 

Kritiker der Vorstellung von der emotionalen Intelligenz fragen, ob wir die Vorstellung von der Intelligenz nicht zu stark erweitern, wenn wir sie auf Emotionen anwenden.

Kreativität ist die Fähigkeit, neuartige, nützliche Ideen hervorzubringen. Sie korreliert etwas mit Intelligenz, aber oberhalb eines IQs von 120 tendiert die Korrelation gegen null. Sie korreliert auch mit Expertenwissen, mit dem Vorstellungsvermögen, mit einer risikobereiten Persönlichkeit, mit intrinsischer Motivation und mit der Unterstützung, die von einer kreativen Umwelt ausgeht. Es sind unterschiedliche Gehirnareale aktiv, wenn wir konvergent denken (die Art des Denkens, das wir benötigen, um Lösungen in Intelligenztests zu finden) und wenn wir divergent denken (die Art des Denkens, das wir benötigen, um zu mehreren einfallsreichen Lösungen zu kommen).

Die Beziehung zwischen der Intelligenz und der Anatomie des Gehirns: Neuere Studien deuten auf eine gewisse Korrelation (etwa +0,40) zwischen Gehirngröße (relativ zur Körpergröße) und Intelligenztestwert hin. Durch die Tendenz des Gehirns, im späten Erwachsenenalter an Größe abzunehmen, wird diese Auffassung in gewissem Grade gestützt. Und bei Autopsien an hochgebildeten Menschen zeigte sich ein überdurchschnittliches Volumen bezogen auf die Synapsen und auf die graue Substanz. Doch die Richtung des Zusammenhangs ist nicht eindeutig. Eine ausgeprägtere Gehirngröße kann Grundlage für eine höhere Intelligenz sein; oder eine höhere Intelligenz kann zu Erfahrungen führen, die das Gehirn üben, mehr Verbindungen aufbauen und damit seine Größe anwachsen lassen; oder es ist ein dritter Faktor im Spiel.

Studien zur Funktionsweise des Gehirns zeigen, dass Menschen, die eine hohe Intelligenz haben, tendenziell Informationen schneller aus dem Gedächtnis abrufen und Reize schneller wahrnehmen als andere. Diese Unterschiede kommen auch in neurologischen Studien zum Ausdruck, in denen bei diesen Personen schnellere Reaktionszeiten im Gehirn nachgewiesen wurden.

 

Intelligenzmessung

Psychologen definieren den Intelligenztest als eine Methode zur Erfassung der geistigen Begabungen eines Individuums und vergleichen diese Begabungen anhand numerischer Werte mit denen anderer Personen. Vor mehr als einem Jahrhundert initiierten Alfred Binet und sein Mitarbeiter Théodore Simon die Bewegung zum modernen Testen der Intelligenz. Dies geschah, indem sie Fragen entwickelten, die dazu beitrugen, den künftigen Fortschritt von Kindern im Schulsystem von Paris vorherzusagen. Lewis Terman von der Stanford University überarbeitete Binets Test, um ihn in den USA einzusetzen. Terman war der Auffassung, dass sein Stanford-Binet-Intelligenztest Menschen zu angemessenen beruflichen Möglichkeiten verhelfen könne. Doch stärker noch als Binet glaubte er, Intelligenz würde vererbt. Während des frühen 20. Jahrhunderts wurden Intelligenztests bedauerlicherweise manchmal dazu eingesetzt, die angeborene Unterlegenheit bestimmter ethnischer und Immigrantengruppen zu »belegen«. Intelligenztestwerte wurden als Intelligenzquotient (IQ) ausgedrückt und berechnet, indem man das Intelligenzalter durch das Lebensalter teilte und das Ergebnis mit 100 multiplizierte.

Eignungstests werden entwickelt, um vorherzusagen, was eine Person lernen kann. Leistungstests werden entwickelt, um zu erfassen, was eine Person gelernt hat. Der WAIS (Wechsler Adult Intelligence Scale, dt. Version HAWIE-R, Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene - Revision 1991), ein Eignungstest, ist der am stärksten verbreitete Intelligenztest für Erwachsene. Zwei ähnliche Wechsler-Tests wurden entwickelt, um die Intelligenz bei Vorschulkindern und bei älteren Kindern zu testen. Der SAT ist ein Eignungstest, und in einer Studie korrelierten die SAT-Gesamtwerte und die Werte der Probanden bei einem Test der allgemeinen Intelligenz auf einem sehr hohen Niveau: +0,82.

Normierung eines Tests bedeutet, dass der Test einer repräsentativen Stichprobe aus der Population der späteren Probanden vorgelegt wird, um eine Grundlage für sinnvolle Testwertvergleiche zu schaffen. Die Verteilung vieler körperlicher und psychologischer Merkmale bildet eine Glockenkurve (Normalverteilung) - eine in etwa symmetrische Kurve, bei der sich die meisten Werte um den Durchschnitt gruppieren, zu den Extremwerten hin werden es immer weniger. Intelligenztestwerte bilden eine solche Kurve; doch in den letzten 6 Jahrzehnten sind die Durchschnittswerte um 27 Punkte angestiegen - ein Phänomen, das als Flynn-Effekt bekannt ist.

Ein Test ist reliabel, wenn er zu übereinstimmenden Ergebnissen führt. Um die Reliabilität zu überprüfen, vergleichen die Forscher die Übereinstimmung (Konsistenz) der Werte der Probanden für zwei Hälften des Tests, also andere Formen desselben Tests, oder sie testen die Probanden erneut mit demselben Test. Ein Test kann reliabel sein, aber nicht valide.

Ein valider Test misst oder sagt vorher, was er messen oder vorhersagen soll.

  • Inhaltsvalidität ist das Ausmaß, in dem ein Test repräsentativ für das entsprechende Verhalten ist (wie etwa eine Fahrprüfung die Fähigkeit zum Autofahren erfasst).
  • Vorhersagevalidität ist das Ausmaß, in dem der Test ein Verhalten vorhersagt, das er vorhersagen soll (Eignungstests haben eine Vorhersagekraft, wenn sich mit ihnen künftige Leistungen vorhersagen lassen).

 

Intra- und interindividuelle Intelligenzunterschiede

Die Stabilität der Intelligenztestwerte nimmt mit dem Alter zu. Im Alter von 4 Jahren schwanken die Testwerte, doch man kann allmählich die Testwerte im Jugend- und Erwachsenenalter vorhersagen. Etwa im Alter von 7 Jahren werden die Testwerte recht stabil und konsistent.

Ist ein Intelligenztest valide, sollten die beiden Gruppen von Personen, die unter die Extreme der Normalverteilungskurve fallen, signifikant unterschiedlich sein; und das sind sie. Diejenigen mit Werten unter 70, dem Grenzwert für die Diagnose mentale Retardierung, unterscheiden sich in ihren Fähigkeiten, von beinahe normal bis zu einem sehr geringen Niveau, bei dem sie ständig Hilfe und Aufsicht benötigen. Das Down-Syndrom ist eine Form der Retardierung mit einer körperlichen Ursache, einer zusätzlichen Kopie des Chromosoms 21. Menschen mit hohen Testwerten neigen im Gegensatz zu zur landläufigen Meinung dazu, gesund, gut angepasst und im schulischen Bereich ungewöhnlich erfolgreich zu sein. Die Schulen fassen diese Kinder manchmal in speziellen Lerngruppen zusammen und trennen sie von denen mit geringeren Testwerten. Derartige Programme können zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung führen, weil Kinder der Wahrnehmung ihrer Fähigkeiten gerne entsprechen.

 

Genetische und umweltbedingte Einflüsse auf die Intelligenz

Studien an Zwillingen, Familienmitgliedern und Adoptivkindern stützen allesamt die Auffassung, dass genetische Faktoren in bedeutsamer Weise zu den Intelligenzwerten beitragen. Die meisten genetisch ähnlichen Menschen weisen recht ähnliche Testwerte auf; die Korrelationen rangieren von +0,85 für gemeinsam aufgewachsene eineiige Zwillinge bis etwa +0,33 für nicht miteinander verwandte Personen, die zusammen aufwuchsen. Es wurde bisher noch kein »Genie-Gen« entdeckt, aber man sucht noch. Mit Erblichkeit der Intelligenz meint man das Ausmaß, in dem sich die Variation der Intelligenztestwerte in einer Gruppe von Menschen, die man untersucht, auf genetische Faktoren zurückführen lässt. Erblichkeit bezieht sich nie auf individuelle Intelligenz, sondern immer nur auf Unterschiede zwischen Menschen.

Die Intelligenztestwerte von zweieiigen Zwillingen, die zusammen aufwuchsen, sind sich ähnlicher als die der anderen Geschwister; und die Testwerte der eineiigen Zwillinge, die getrennt aufwuchsen, sind sich weniger ähnlich (wenn auch immer noch sehr hoch miteinander korreliert) als die Testwerte eineiiger Zwillinge, die zusammen aufwuchsen. Andere Studien mit Kindern, die in extrem kargen, extrem förderlichen oder kulturell unterschiedlichen Umweltsituationen aufwuchsen, deuten darauf hin, dass Lebenserfahrungen das Intelligenztestergebnis signifikant beeinflussen.

Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den ethnischen Gruppen in Bezug auf die Intelligenztestwerte: Als Gruppe haben die weißen Amerikaner gewöhnlich einen Durchschnittswert im Intelligenztest, der etwa 8-15 Punkte höher liegt als der von Amerikanern lateinamerikanischer und afroamerikanischer Herkunft. Der Befund deutet darauf hin, dass diese Gruppenunterschiede weitgehend auf Umweltunterschiede zurückgehen. Sechs Punkte dazu werden in diesem Kapitel behandelt:

  1. Die ethnischen Gruppen sind sich genetisch bemerkenswert ähnlich.
  2. Ethnische Zugehörigkeit ist eine soziale, nicht eine biologisch festgelegte Kategorie.
  3. Asiatische Schülerinnen und Schüler zeigen in mathematischen Leistungs- und Eignungstests bessere Leistungen als nordamerikanische Schülerinnen und Schüler.
  4. Die Leistung in Intelligenztests liegt in der heutigen besser ernährten, besser ausgebildeten und besser auf Tests vorbereiteten Bevölkerung über der der Bevölkerung im Jahre 1930; der Unterschied ist etwa genauso hoch wie der zwischen einem durchschnittlichen Weißen und einem durchschnittlichen Schwarzen in den heutigen USA.
  5. Weiße und schwarze Säuglinge haben gewöhnlich gleich hohe Testwerte in Tests, mit denen man die künftige Intelligenz vorhersagen kann.
  6. In unterschiedlichen Epochen hatten unterschiedliche ethnische Gruppen Zeiten bemerkenswerter Leistungen.

 

Geschlechtsunterschiede in Bezug auf die Fähigkeiten: In diesem Kapitel werden 7 Arten beschrieben, wie sich Frauen und Männer in ihren Fähigkeiten unterscheiden: 

  1. Mädchen sind besser in der Rechtschreibung.
  2. Mädchen haben eine höhere Wortflüssigkeit und können mehr Wörter erinnern.
  3. Mädchen können besser Gegenstände auffinden.
  4. Mädchen sind sensibler für Berührungen, Geschmäcker und Farben.
  5. Es gehören mehr Jungen zu den Leistungsschwachen als Mädchen.
  6. Jungen zeigen beim mathematischen Problemlösen bessere Leistungen als Mädchen, während die Mädchen bei mathematischen Berechnungen bessere Leistungen aufweisen als Jungen.
  7. Frauen erkennen Emotionen leichter als Männer.

 

Mit Eignungstests soll vorhergesagt werden, wie gut die Leistung des Probanden in Zukunft in einer bestimmten Situation sein wird. Damit sind sie von vornherein »verzerrt« und zwar in der Hinsicht, dass sie auf durch kulturelle Erfahrungen bedingte Leistungsunterschiede empfindlich reagieren. Aber Verzerrung kann auch das bedeuten, was die Psychologen im Normalfall unter diesem Begriff verstehen, nämlich dass ein verzerrter Test für eine Gruppe weniger genaue Ergebnisse vorhersagt als für eine andere. In diesem Sinne sind sich die meisten Experten einig, dass die wichtigsten Eignungstests nicht auf signifikante Weise verzerrt sind. »Stereotype Threat« ist eine sich selbst bestätigende Sorge, dass man aufgrund eines negativen Stereotyps bewertet wird. Dieses Phänomen tritt in manchen Fällen unter Afroamerikanern und bei Frauen aller Hautfarben auf, wenn die Intelligenz getestet wird.